Sachliche Zuständigkeit und Aktivlegitimation - Sachverhalt 1

base giuridica

Nome del giudice

Kantonsgericht St. Gallen

Data

10.09.2018

Sommario

Das Kantonsgericht St. Gallen beurteilte in drei Entscheiden verschiedene prozessrechtliche Aspekte mit Bezug zum Mietrecht. Im Zusammenhang mit einem Untermietvertrag über Geschäftsräume zwischen zwei Aktiengesellschaften bejahte es die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts für eine Streitigkeit betreffend Mängel an der Mietsache (Entscheid vom 10. September 2018). In Anwendung der üblichen Auslegungsgrundsätze verneinte das Kantonsgericht die Aktivlegitimation des Ehemanns der Mieterin für die Geltendmachung von Mängelrechten. Dieser hatte den Mietvertrag unter der Bezeichnung «Ehepartner» unterschrieben (Entscheid vom 23. Januar 2018). Durch eine gerichtlich genehmigte Trennungsvereinbarung mit Anordnung der Gütertrennung wurde die einfache Gesellschaft auf Seiten der Vermieter aufgelöst. Das Kantonsgericht bejahte, dass der Ehemann alleine zur Prozessführung aktivlegitimiert ist (Entscheid vom 31. Oktober 2018).

Esposizione dei fatti

Am 27. Juni 2014 schlossen die L. AG als Untermieterin und die F. AG als Untervermieterin einen Untermietvertrag über Geschäftsräume ab. In der Folge kam es zwischen den Parteien des Untermietvertrags zu Streitigkeiten betreffend die Nutzung bestimmter Gebäudeteile und Mängel. Nach einem erfolglosen Schlichtungsversuch erhob die Untermieterin beim Kreisgericht Klage. Auf gerichtliche Nachfrage hin bezifferte sie den Streitwert auf rund Fr. 45 000.-. Mit Entscheid vom 4. November 2016 wurde die Klage in Bezug auf einen Mangel gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Die Untermieterin reichte am 6. April 2017 Berufung ein.

Considerazioni

II.

3. b) Die sachliche Zuständigkeit wird als Prozessvoraussetzung von Amtes wegen geprüft (Art. 60 ZPO), also nicht nur auf Parteieinrede hin. Erlässt ein sachlich unzuständiges Gericht einen Entscheid, leidet dieser nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung an einem schwerwiegenden Mangel, der je nach den Umständen zur Nichtigkeit führen kann (BGE 137 III 217 E. 2.4.3 mit Hinweisen; BGer 4A_100/2016 E. 2.1.1, nicht publ. in: BGE 142 III 515; 4A_229/2017 E. 3.2). Eine obere kantonale Instanz hat die sachliche Zuständigkeit ihrer Vorinstanz daher auch im Rechtsmittelverfahren ohne entsprechende Rügen zu prüfen (BGer 4A_488/2014 E. 3.1 und 4A_291/2015 E. 3.2). Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte ist grundsätzlich – unter Vorbehalt im Gesetz ausdrücklich vorgesehener Wahlmöglichkeiten – der Parteidisposition entzogen. Eine Einlassung bei einem sachlich nicht zuständigen Gericht ist ausgeschlossen (BGE 138 III 471 E. 3.1; 140 III 355 E. 2.4). Zu prüfen ist deshalb vorab, ob die Vorinstanz für die Beurteilung der Klage sachlich zuständig war.

aa) Über handelsrechtliche Streitigkeiten entscheidet im Kanton St. Gallen das Handelsgericht (Art. 6 Abs. 1 ZPO i.V.m. Art. 10 EG-ZPO). Eine Streitigkeit gilt gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO als handelsrechtlich, wenn die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen ist (lit. a), gegen den Entscheid die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht offen steht (lit. b) und die Parteien im schweizerischen Handelsregister oder in einem vergleichbaren ausländischen Register eingetragen sind (lit. c). Sind diese drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt, ist für die Beurteilung des Rechtsstreits zwingend das Handelsgericht sachlich zuständig (BSK ZPO-Vock/Nater, Art. 6 N 7; Vetter, in: Sutter- Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Komm., Art. 6 N 9; Berger, Berner Kommentar, N 7 zu Art. 6 ZPO).

bb/aaa) Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 lit. a ZPO ist sehr weit gefasst, indem die handelsrechtliche Natur der Streitsache fingiert wird, sobald die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen ist (BGE 140 III 355
E. 2.3.1 mit weiteren Hinweisen). Unter den Begriff der geschäftlichen Tätigkeit fallen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht nur die Grundgeschäfte einer Unternehmung, sondern auch die Hilfs- und Nebengeschäfte, welche dazu bestimmt sind, die Geschäftstätigkeit zu fördern oder zu unterstützen. Dazu gehören auch der Abschluss von Mietverträgen über Geschäftsliegenschaften und damit grundsätzlich auch Streitigkeiten aus solchen Verträgen (BGE 139 III 457 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen).

bbb) Die L. AG macht gegenüber der F. AG Ansprüche aus einem – unbestrittenermassen – am 27. Juni 2014 geschlossenen Untermietvertrag geltend, wobei sich die vertragsgegenständlichen Büro-, Lager- und Werkstatträumlichkeiten in einer Gewerbeliegenschaft befinden und von der L. AG zu geschäftlichen Zwecken genutzt werden. Es handelt sich somit um einen Mietvertrag betreffend Geschäftsräume (vgl. hierzu BSK OR I-Weber, Art. 253a/253b N 11; Higi, Zürcher Kommentar, N 28 Vor Art. 271-273c OR). Dementsprechend ist die vorliegende Streitigkeit – im Sinne der vorstehenden Rechtsprechung – vom Begriff der geschäftlichen Tätigkeit gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. a ZPO erfasst.

cc/aaa) Im Zusammenhang mit der Voraussetzung von Art. 6 Abs. 2 lit. b ZPO ist sodann zu prüfen, ob in vermögensrechtlichen Angelegenheiten – wie hier – der Streitwert von mindestens Fr. 30 000.- erreicht wird (Art. 74 Abs. 1
lit. b BGG). In arbeits- und mietrechtlichen Fällen muss der Streitwert für die Beschwerde ans Bundesgericht mindestens Fr. 15 000.- erreichen (Art. 74 Abs. 1 lit. a BGG), wobei jedoch zu beachten ist, dass gemäss Art. 243 Abs. 1 und 3 ZPO für solche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 30 000.- das vereinfachte Verfahren gilt, welches vor Handelsgericht keine Anwendung findet (BGE 139 III 457 E. 4.4.3.3; 142 III 788 E. 4.1; 143 III 137 E. 2.2). Die massgebliche Streitwertgrenze muss bereits bei Einreichung der Klage erreicht sein (BGE 139 III 67 E. 1.2). Bei streitwertabhängiger Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit ist der kumulierte Betrag der Streitwerte der betroffenen Ansprüche ausschlaggebend (BGE 142 III 788 E. 4.2; BSK ZPO-Klaus, Art. 90 N 20).

bbb) […] Bereits zum Zeitpunkt der Klageeinreichung stand mithin fest, dass die klägerischen Begehren zusammengerechnet die Streitwertgrenze von Fr. 30 000.- überschreiten würden, wovon offensichtlich auch die Vorinstanz ausging, zumal sie die Klage dem ordentlichen Verfahren unterstellte. Die Voraussetzung der Beschwerdemöglichkeit an das Bundesgericht gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. b ZPO war demnach ebenfalls gegeben. Im Übrigen betrug der Streitwert auch nach dem teilweisen Klagerückzug mit Eingabe vom 7. Juni 2016 weiterhin über Fr. 30 000.- […], womit auf die Frage, ob die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts bei einer während des hängigen Verfahrens eingetretenen Streitwertreduktion unter die Grenze von Fr. 30 000.- erhalten bleibe (vgl. hierzu BSK ZPO-Vock/Nater, Art. 6 N 10a; BK-Berger, N 37 zu Art. 6 ZPO; KUKO ZPO-Haas/Schlumpf, Art. 6 N 10), nicht weiter einzugehen ist.

dd) Schliesslich ist auch die dritte Voraussetzung des Handelsregistereintrages ohne Weiteres erfüllt, handelt es sich doch sowohl bei der L. AG als auch bei der F. AG um in der Schweiz ansässige Aktiengesellschaften.

ee) Nach dem vorstehend Ausgeführten ist die vorliegende Auseinandersetzung als handelsrechtliche Streitigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 2 ZPO zu qualifizieren, für deren Beurteilung grundsätzlich das Handelsgericht sachlich zuständig ist (Art. 10 EG-ZPO). Es bleibt indessen die Frage zu klären (nachfolgend lit. c), ob i.S.v. Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO eine Ausnahme von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit gegeben ist.

c/aa) Von der (an sich gegebenen) Zuständigkeit des Handelsgerichts ausgenommen sind Auseinandersetzungen, die gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO (streitwertunabhängig) im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sind (BGE 139 III 457 E. 4.4.3.3; vgl. auch 142 III 515 E. 2.2.4 und 143 III 137 E. 2.2). Nach dieser Bestimmung gilt das vereinfachte Verfahren ohne Rücksicht auf den Streitwert für Streitigkeiten aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen sowie aus landwirtschaftlicher Pacht, sofern die Hinterlegung von Miet- und Pachtzinsen, der Schutz vor missbräuchlichen Miet- und Pachtzinsen, der Kündigungsschutz oder die Erstreckung des Miet- oder Pachtverhältnisses betroffen ist. Dabei ist offensichtlich, dass es sich vorliegend nicht um einen Fall von «Kündigungsschutz» oder «Erstreckung des Mietverhältnisses» handelt. Der Antrag der L. AG auf Reduktion des Mietzinses für den Fall, dass die ganze Galerie nicht Mietgegenstand darstelle […], ist sodann nicht als Anfechtung des Anfangsmietzinses (i.S.v. Art. 270 OR) durch die L. AG zu qualifizieren, sondern – für den Fall, dass die Auslegung des Untermietvertrags ergeben würde, dass er die Galerie überhaupt nicht oder nur teilweise erfasse – als Teilanfechtung wegen – mit der Diskrepanz zwischen ihrem tatsächlichen Willen (inkl. Galerie) und dem objektiven Gehalt (exkl. Galerie) begründeten – Erklärungsirrtums (Art. 23 Abs. 1 Ziff. 3 OR). […]

bb) Zu klären bleibt damit noch, ob die Streitigkeit unter den Begriff «Hinterlegung von Miet- und Pachtzinsen» fallen könnte. Diesbezüglich ist mit der weitgehend einhelligen Lehre davon auszugehen, dass immer dann, wenn der Mieter die Mängelrechte nach Art. 259a OR im Rahmen eines Hinterlegungsverfahrens geltend macht, streitwertunabhängig das vereinfachte Verfahren gilt, während bei einer Geltendmachung der Mängelrechte unabhängig vom Hinterlegungsverfahren für die Verfahrensart der Streitwert massgebend ist (BSK ZPO-Mazan, Art. 243 N 19b; Hauck, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO Komm., Art. 243 N 20; Bohnet, Le droit du bail en procédure civile suisse, in: 16e Séminaire sur le droit du bail, Hrsg. Bohnet/Wessner, N 111; Dietschy, Le déroulement de la procédure simplifiée, in: Procédure civile suisse, Les grands thèmes pour les practiciens, Hrsg. Bohnet, N 9; Wullschleger, Sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts in Mietsachen, in: ZZZ 38, 2016, S. 182; vgl. auch ZR 115, 2016, Nr. 6 S. 35 ff.,
und BO.2015.39-K3 E. III.1.a/bb).

bbb) […] Mangels Zusammenhangs mit dem Hinterlegungsverfahren waren die Mängelrechte der L. AG daher nicht gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO unabhängig vom Streitwert im vereinfachten Verfahren zu beurteilen, sondern gelangte auch unter diesem Aspekt zu Recht das ordentliche Verfahren zur Anwendung. […]

d) Nach dem Gesagten handelt es sich somit vorliegend um eine handelsrechtliche Streitigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 2 ZPO, zu deren Beurteilung das Handelsgericht zwingend sachlich zuständig ist (Art. 6 Abs. 1 ZPO i.V.m. Art. 10 EG-ZPO). Der Vorinstanz, welche die Klage unter der Bezeichnung «OV» als ordentliches Verfahren in ihrer Geschäftskontrolle einschrieb und in der Folge auch entsprechend behandelte, war die materielle Beurteilung der Klage mithin verwehrt. Vielmehr hätte die Klage mangels sachlicher Zuständigkeit durch ein Nichteintreten mit den Rechtsfolgen von Art. 63 ZPO erledigt werden müssen. Der angefochtene Entscheid ist deshalb von Amtes wegen aufzuheben. Stattdessen hat ein Nichteintreten zu ergehen.


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