Entscheid des Kantonsgerichts von Appenzell Ausserrhoden
14.05.2013
Kündigung wegen dringendem Eigenbedarf. Der Eigenbedarf zum Zeitpunkt der Kündigung war hinreichend glaubhaft gemacht. Da der Eigenbedarf aber nachträglich dahingefallen war, verhält sich die Vermieterschaft treuwidrig, wenn sie nach wie vor an diesem festhält. Berechnung des Streitwerts bei Kündigungsanfechtungen.
1.3 Gemäss Art. 91 Abs. 1 ZPO wird der Streitwert durch das
Rechtsbegehren bestimmt, wobei allfällige Eventualbegehren nicht
hinzugerechnet werden. Bei Streit um die Gültigkeit einer Kündigung
berechnet sich der Streitwert nach dem Zeitraum, während dem der
Mietvertrag fortdauerte bzw. dem Zeitpunkt, auf welchen gekündigt werden
könnte, wäre die Kündigung nicht gültig. Dabei ist insbesondere die
dreijährige Sperrfrist von Art. 271a Abs. 1 lit. e OR zu berücksichtigen
(DIGGELMANN, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar, Alexander
Brunner, Dominik Gasser und Ivo Schwander [Hrsg.], Zürich/St. Gallen
2011, Art. 91 N 43; LACHAT, Mietrecht für die Praxis, Zürich 2009, S.
96; BGE 137 III 389 = Pra 2012 Nr. 6 E. 1.1.). Diese Sperrfrist beginnt
erst mit dem (endgültigen) Abschluss des Verfahrens zu laufen. Der
Streitwert muss aber schon zu Beginn des Verfahrens bestimmbar sein. Bei
Klageeinleitung ist jedoch praktisch nicht abschätzbar, auf welchen
Termin das Mietverhältnis später gekündigt werden kann. Zusätzlich zur
gesetzlichen Kündigungsfrist muss also noch eine geschätzte
durchschnittliche Verfahrensdauer berücksichtigt werden (TH. KOLLER, Die
mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2011, ZBJV
2013, [recte] Bd I, S. 31 ff. zu BGE 137 III 389). Das Obergericht Bern
setzt diese normierte Verfahrensdauer mit 6 Monaten an (http://www.justice.be.ch/justice/de/
index/zivilverfahren/zivilverfahren/kreisschreiben.assetref/content/dam/
documents/Justice/OG/de/KS_ZA/Streitwertberechnung_bei_Exmissions-entscheiden.pdf
[21.6.2011] zuletzt besucht am 18. Juli 2013), was auch für Verfahren
vor dem Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden sinnvoll erscheint.
Die
Klage wurde am 27. April 2012 eingeleitet. Zu diesem Datum
hinzuzurechnen sind gemäss der obigen Ausführungen 6 Monate für die
geschätzte durchschnittliche Verfahrensdauer sowie die Sperrfrist von 36
Monaten. Das Mietverhältnis könnte somit frühestens am 27. Oktober 2015
gekündigt werden unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist.
Daraus folgt, dass das Mietverhältnis frühestens per 31. März 2016
aufgelöst werden könnte. Vorliegend wurde das Mietverhältnis ordentlich
auf den laut Vertrag frühest möglichen Termin, nämlich den 30. September
2012 gekündigt. Die Differenz zum frühesten Kündigungstermin unter
Einhaltung der Sperrfrist und der Verfahrensdauer beträgt somit 42
Monate. Bei einem monatlichen Nettomietzins von CHF 2900.– beträgt der
Streitwert folglich Fr. 121 800.–
2. Gültigkeit der Kündigung
2.1 Die Kündigung des Mietvertrages durch die Vermieterschaft erfolgte am 17. Februar 2012 mit jeweils separat an die Mieterin und den Mieter zugestelltem amtlichen Formular auf den 30. September 2012 und damit auf den frühest möglichen vertraglich vereinbarten Kündigungstermin. Es handelt sich dabei um eine frist- und formgerecht ausgesprochene ordentliche Kündigung im Sinne von Art. 266a Abs. 2 i.V.m. Art. 266l und Art. 266n OR. Dies wird von den Parteien auch nicht bestritten.
2.2 Die Mieterin und der Mieter sind jedoch der Meinung, dass die Begründung der Kündigung, nämlich dass dringender Eigenbedarf des Sohnes [der Gesellschafterin der Vermieterschaft] bestehe, nicht zutrifft, weshalb sie die erfolgte Kündigung als missbräuchlich ansehen. Die Mieterin und der Mieter sind darüber hinaus der Ansicht, dass eine Rachekündigung vorliegt aufgrund der von ihnen wiederholt gegenüber der Vermieterschaft geäusserten Mängelrügen am Mietobjekt. Die Vermieterschaft hielt dagegen stets daran fest, dass die Kündigung aufgrund des dringenden Eigenbedarfs von X, Sohn der Gesellschafterin der Vermieterschaft, erfolgte. X habe sich nach intensiver, aber erfolgloser Suche nach einem Einfamilienhaus in A entschlossen, in das an die Mieterin und den Mieter vermietete Einfamilienhaus zu ziehen. Die Vermieterschaft schloss ausserdem aus dem Verhalten der Mieter, dass diese das Interesse am Abschluss eines Kaufrechtsvertrags verloren hatten.
2.3 Aus den Akten geht einerseits hervor, dass die Mieterin und der Mieter der Vermieterschaft mit E-Mail vom 15. Januar 2012 einen Mietzinsrückbehalt sowie die Kündigung androhten, sollten die noch offenen Arbeiten am Mietobjekt nicht bis Ende Monat nicht abgeschlossen sein. Andererseits war die Vermieterschaft stets sehr bemüht, die geltend gemachten Mängel rasch zu beheben.
2.4 X wurde am 31. Januar 2013 durch die Einzelrichterin als Zeuge einvernommen. Er konnte dabei zwar glaubwürdig aufzeigen, dass er tatsächlich lange nach einem Einfamilienhaus oder nach einer dafür geeigneten Parzelle in A gesucht hatte. Im November 2012 war er fündig geworden und konnte in A ein Haus kaufen, das er umbaut. Das Haus wird voraussichtlich per Ende 2013 bezugsbereit sein.
2.5 Die Mieterin und der Mieter erklärten in ihrer Stellungnahme zu dieser Zeugeneinvernahme, dass der von der Vermieterschaft geltend gemachte Eigenbedarf spätestens ab dem Einzugsdatum von X in sein Haus dahinfalle. Die Mieterin und der Mieter sind der Ansicht, dass die Vermieterschaft konsequenterweise, wäre der geltend gemachte Eigenbedarf das tatsächliche Kündigungsmotiv, auf die Kündigung hätten zurückkommen und das Mietverhältnis hätten fortsetzen müssen. Die Vermieterschaft hält demgegenüber den geltend gemachten Eigenbedarf für X für erstellt und den Gegenbeweis dafür, dass keine Rachekündigung vorliegt, für erbracht.
2.6 Gemäss Art. 271 Abs. 1 OR ist eine Kündigung anfechtbar, wenn die
gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstösst. Nach Art. 271a Abs.
1 lit. a OR ist eine Kündigung durch den Vermieter u.a. auch
anfechtbar, wenn die ausgesprochen wird, weil der Mieter nach Treu und
Glauben Ansprüche aus dem Mietverhältnis geltend macht. Dabei handelt es
sich um eine sogenannte Rache- oder Vergeltungskündigung (LACHAT,
Mietrecht für die Praxis, Zürich 2009, S. 611). Kündigungen sind –
negativ ausgedrückt – immer zulässig, wenn sie weder die in Art. 271a OR
aufgezählten Voraussetzungen erfüllen noch in anderer Weise, jedoch
ähnlich qualifiziert, den Missbrauchsanforderungen von Art. 271 OR
entsprechen. Kündigungen sind – positiv ausgedrückt – also stets
zulässig, wenn sie einem Objektiv ernsthaften und schutzwürdigem Motiv
und damit einem legitimen Interesse des Kündigenden entsprechen, das
Mietverhältnis zu beenden und keine Sperrfrist i.S.v. Art. 271a Abs. 1
lit. d und e OR läuft. Ein besonders grosses Interesse oder die
Unzumutbarkeit der Fortführung des Mietverhältnisses sind dagegen nicht
erforderlich. Eine Interessenabwägung ist ebenso wenig vorzunehmen
(SVIT, Das Schweizerische Mietrecht, 2008, Art. 271 N 25 f.) Eigenbedarf
des Vermieters für sich, nahe Verwandte oder Verschwägerte, wie auch
für Arbeitnehmer, Freunde, Bekannte oder Geschäftspartner stellt einen
zulässigen Kündigungsgrund dar (SVIT, Das Schweizerische Mietrecht,
2008, Art. 271 N 32).
In der Lehre umstritten ist, wie nachträglich
weggefallene Gründe zu behandeln sind. Laut WEBER plädiert CALAMO für
eine Ungültigkeit der Kündigung, währenddem HIGI der Ansicht ist, dass
eine nach Treu und Glauben ausgesprochene Kündigung nicht nachträglich
zur treuwidrigen werden könne. WEBER selbst kommt zum Schluss, dass das
Festhalten an einem Kündigungsgrund, der nachträglich weggefallen ist,
treuwidrig ist. Denn Zweck des Kündigungsschutzes ist, das
Bestandesinteresse des Mieters gegen eine nutzlose Rechtsausübung zu
schützen. Folglich ist einer ursprünglich gültigen Kündigung nach
Wegfall des Kündigungsgrundes die rechtliche Wirkung zu versagen.
Daneben kann das Festhalten an einer nutzlos gewordenen Kündigung auch
ein Indiz für die Treuwidrigkeit derselben bilden. Denn wer sich derart
unvernünftig verhält, setzt sich dem Verdacht aus, das angegebene
Kündigungsmotiv sei nicht das wirkliche oder zumindest nicht das einzige
gewesen (WEBER, Basler Kommentar OR I, Basel 2011, Art 271/271a N 33a
mit Verweis auf CALAMO und HIGI).
Der Kündigende hat die
Verwirklichung des bestrittenen Kündigungsgrundes zu beweisen, wobei es
gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung genügt, dass der Kündigende
die Gründe zumindest glaubhaft macht (SVIT, Das Schweizerische
Mietrecht, 2008, Art. 271 N 40a mit weiteren Hinweisen). Dem
Kündigungsempfänger obliegt hingegen der Beweis für die Tatsachen, aus
denen er die Missbräuchlichkeit ableitet (SVIT, Das Schweizerische
Mietrecht, 2008, 271 N 40b m.w.H.). Der Zusammenhang zwischen
Willensentschluss und Kündigung ist aufgrund von Indizien zu ermitteln.
Der Grundsatz ist jedoch, dass die Missbräuchlichkeit der Kündigung vom
Kündigungsempfänger zu beweisen ist (SVIT, Das Schweizerische Mietrecht,
2008, Art. 271 N 38).
2.7 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein ziemlich enger zeitlicher Zusammenhang zwischen den Mängelrügen, der Androhung sowohl der Mietzinshinterlegung als auch der Kündigung durch die Mieterin und den Mieter einerseits und der durch die Vermieterschaft ausgesprochenen Kündigung andererseits besteht. Zwischen diesen beiden Ereignissen liegt lediglich knapp ein Monat, was für eine Rachekündigung sprechen könnte. Andererseits sind auch die Bemühungen der Vermieterschaft um Mängelbeseitigung zu berücksichtigen. Die Zeugenaussage von X belegt dessen Suchbemühungen und Hoffnungen, ein Objekt im massgeblichen Zeitraum von September 2011 bis Februar 2012 zu finden. Da im gleichen Zeitpunkt die Mieterin und der Mieter klar signalisierten, dass ihnen Verschiedenes am Miet-/Kaufobjekt nicht passte und sogar mit der Kündigung drohten, ist die Schlussfolgerung der Vermieterschaft nachvollziehbar, dass es wohl nicht zum Abschluss des angestrebten Kaufvertrags kommen werde und durch die fristgerechte Kündigung der frustrierenden Suche des Sohnes ein Ende gesetzt werden könnte. Es gibt also nicht nur den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Geltendmachung von Mängelrechten durch die Mieterin und den Mieter, sondern auch einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem – damals endgültigen – Scheitern von mehreren Versuchen von X, ein Baugrundstück oder Haus zu finden und dem von der Mieterin und dem Mieter signalisierten Desinteresse am Abschluss eines Kaufrechtsvertrags. Damit ist hinreichend glaubhaft gemacht, dass zum Zeitpunkt der Kündigung tatsächlich dringender Eigenbedarf bestand. Da X allerdings im November 2012 ein anderes Haus für sich und seine Familie erwerben konnte, ist dieser an sich zulässige Kündigungsgrund nachträglich weggefallen. Die Vermieterschaft nannte keinen anderen Grund, der ihr Interesse an der Auflösung des Mietverhältnisses begründen könnte. Indem die Vermieterschaft auch nach dem Wegfall des dringenden Eigenbedarfs explizit an diesem festhielt und kein anderes Interesse für die Auflösung des Mietvertrages geltend machte und auch kein solches ersichtlich ist, verhielt sie sich treuwidrig. Die Kündigung des Einfamilienhauses durch die Vermieterschaft war somit ungültig, weshalb das Mietverhältnis nach wie vor fortbesteht. Die Klage ist daher im Hauptbegehren gutzuheissen. Das Eventualbegehren ist damit nicht mehr zu prüfen.
54/4 - Rachekündigung oder Kündigung aus dringendem Eigenbedarf?